Schummeln geht nicht

Verdi * Don Carlos / Rezension von Hans-Martin Koch

Kein Page, kein Herold, kein Mönch, kein Volk, keine flandrischen Gesandten und vor allem kein Großinqusitor. Der Oberschurke, im wahren Opernleben bitterböse, blind und greise, fliegt raus. Aber auch ohne ihn wird viel, viel Schmerz gereicht. Verdis gewaltige Oper „Don Carlos“ erzählt von himmlischer Liebe und düsterem Grab, von Kirche und König, von Knast und Kloster und vor allem von Freiheit und Unfreiheit – im äußeren wie im inneren. Thomas Dorsch hat fürs Theater Lüneburg die große Oper aufs aktuell übliche 60-Minuten-Format geschrumpft. Ein Wagnis. Dorsch stellt für diese konzertante Fassung die Musik der menschlichen Dramen ins Zentrum und gewinnt.

Die Symphoniker sitzen auf der Bühne und das in einer Besetzung, die eher an Mozart als an Verdi erinnert. Wo der italienische Operngott vier Hörner, Pauken, Orgel und sogar eine Blaskapelle fordert, leitet Dorsch ein „Verdi light“-Orchester. Aber es produziert überraschend viel Wumms, wo es passt. Wichtiger: Der Orchesterklang setzt nicht auf Verdis streckenweise brachiale Imposanz, sondern auf Transparenz. In der schlanken Instrumentierung entwickelt sich die Tiefe des Gefühls sogar weit besser als in einer Doppelt- bis Vierfachbesetzung.

Corona zwingt zu harschen Maßnahmen. Thomas Dorsch kann keinen Chor einsetzen, keine Blech-und-Pauken-Armee, die zum Teil wuchtigen Aktschlüsse entfallen. Corona erzwingt stattdessen Kreativität. In diesem Fall heißt das wie bei der „Jungfrau von Orleans“: streichen, streichen, streichen und trotzdem so logisch bleiben wie möglich. Na ja. Das kann nicht gelingen. Denn selbst die für drei, vier Stunden reichende Originalhandlung verknotet sich höchst eindrucksvoll.

Alles klappt ohne Makel
Da das Programmheft mit der Inhaltsangabe vor Aufführungsbeginn kaum zu lesen ist, lohnt es, vorab die Einführung auf der Homepage des Theaters zu hören – oder sich einfach zurückzulehnen und die melodiengetränkte Musik strömen zu lassen.

Der Sturm der Gefühl wird jeden mit sich ziehen, der Oper oder wenigstens starke Stimmen schätzt. Gesungen wird italienisch, über der Bühne läuft deutscher Text.

Thomas Dorsch steht mit dem Rücken zu den frontal zum Saal postierten fünf Sängern. Über zwei Bildschirme an den Saalseiten sehen die Solisten die Einsätze, das klappt makellos. Notenpulte sind aufgebaut, werden zum Teil genutzt. Konzertante Oper kommt Sängern erst einmal entgegen, alles ist auf den Klang fokussiert. Aber alles, was eine Szene an Emotion vermitteln kann, muss sich nun allein über die Musik vermitteln. Schummeln geht nicht.

So ein Abend kann nur funktionieren, wenn das aufgereihte Solistenquintett sich nicht übertrumpfen will, jede/r die eigene Individualität einbringen und dem Charakter der Partie Tiefe geben kann. Auch würde ein krasses Qualitätsgefälle bei den Sängern die Wirkung zerbröseln lassen. Das passiert nicht, das Team harmoniert, was sich besonders in den vielen Duetten erweist. Aus dem Haus kommen Carlos und Posa, das sind Karl Schneider und Ulrich Kratz, deren Stimmen wie guter Wein mit den Jahren an Qualität gewonnen hat.

Karl Schneider bringt den Carlos in seinen Emotionen differenziert und reich an feinen Nuancen rüber. Ulrich Kratz setzt beim Posa lustvoll auf die markante Power seiner Stimme, locker und voller Energie, aber nie eindimensional.

Bereicherung für die Spielzeit
Die anderen Partien sind mit Gästen besetzt. Mit rund geführtem Bass vermittelt Philip Björkqvist das Insichgekehrte, Tiefenerschütterte des Philipp. Aber was wäre der Abend ohne die beiden Frauen im Solistenquintett?! Stammgast Signe Heiberg, eigentlich schon ein Stargast, dosiert als Elisabeth ihre offenbar grenzenlose Stimmkraft klug, entwickelt unangestrengt eine riesige Palette an Farbigkeit, setzt ein berührendes Piano ein und gibt der Strahlkraft ihres Soprans in den Höhen Raum. Was kann man mehr wollen?!

Den spannendsten, weil ambivalentesten Charakter der Oper schrieb Verdi der Eboli in die Noten. Sie pendelt zwischen Intriganz und Reue, was mit Leidenschaft und großem Können von Almerija Delic’ Mezzo quer durch Intervallsprünge, Koloraturen und melodische Bögen Tiefe bekommt. Die Partie übernimmt alternierend Linda Sommerhage.

So mag „Don Carlos“ zum Best-of eingekocht sein. Als musikalisches Ereignis bereichert der stundekurze Abend diese pandemisch durchkreuchte Spielzeit und wird zur Premiere gefeiert; zwischendurch, wo immer Dorsch eine Pause lässt, und am Ende ausgiebig. Die nächsten Aufführungen: Dienstag, 18 und 20 Uhr. Es gibt Restkarten.