Besser geht‘s eigentlich nicht

  1. September 2018

Lüneburg. Was für ein Abend! Er beginnt mit einem Missverständnis und steigert sich zum Besten, was der Saisonstart in neun Jahren Intendanz von Hajo Fouquet zu bieten hatte. Puccinis „La Bohème“ wird so manchesmal in Melancholie und Schwulst ertränkt. Hier aber kommt die Oper jung, schlank, rasant, witzig, überraschend und an den Kernstellen umso ergreifender daher. Regisseur Hajo Fouquet, Thomas Dorsch als musikalischer Leiter, Ausstatter Stefan Rieckhoff, Co-Regisseur Oliver Hennes und alle legen einen bezwingenden Abend hin. Das Publikum im Theater Lüneburg ist immer schnell begeistert. An diesem Abend konnte es gar nicht anders sein.

Trotzdem – das Missverständnis. Der Vorhang geht auf: ein eingefrorenes Bild, kein Ton. Ein starkes Bild, kurz wie ein Gedankenblitz. „Bohème“-Kenner sehen: Das ist das Ende, auf das alles im bunten Leben zuläuft. Kaum erkannt, rauscht der Vorhang schon wieder zu. Stille. Einige im Saal lachen, gab es da eine Panne? Dann erlöst die Musik, Vorhang auf und hinein ins pralle Leben!

Die Wohngemeinschaft der brotlosen jungen Künstler ist auf einem Podest untergebracht und feiert über Tisch und Stühle. Draußen schneit und weihnachtet es, immer wieder schleppen im Hintergrund Menschen ihren Weihnachtsbaum nach Haus. Das hat Witz. Die Jungs in der WG quält aber Hunger und sie frieren. Na und?! Sie machen trotzdem Party.

Figuren besitzen klare Konturen
Fouquet/Rieckhoff machen die „Bohème“ zu einem Stück von heute. Alle tragen Alltagskleidung und was immer auf Italienisch gesungen wird, es wirkt selbstverständlich. Die Figuren besitzen klare Konturen und Charaktere, ihr Verhalten zueinander ist schlüssig. Der von den Symphonikern produzierte Puccini-Sound kommt transparent und melodisch empfindsam daher, mit vielen impressionistischen und solistischen Tupfern. Feinschliff verwandelt sich in Kunst. Aber wenn Puccini es in großen Ensembles krachen lässt, dann wird bis kurz vorm Klingeln der Ohren an Donner und Gloria nicht gespart.

Fouquet/Rieckhoff nehmen auch die Rolle der Musetta in den Fokus. Natürlich nach Rodolfo, den Guillermo Valdés mitreißend und mit natürlichem Schwung der Stimme singt. Und nach der durchaus listenreich gezeigten Mimi, in deren Partie Signe Ravn Heiberg alle emotionalen Höhen und Tiefen mustergültig durchläuft.

Musetta, das ist so locker wie präsent Franka Kraneis. Musetta ist die Frau, die Männer melkt. Sie liebt zwar den armen Maler Marcello, der von Christian Oldenburg jede Menge Temperament in Spiel und Stimme bekommt. Aber Musetta liebt auch das Geld, das sie reichen Knackern aus der Hose zieht. Sie schneit überbrezelt in Glitzerkleid und Leopardenmantel ins trubelige Café und hat so einen Geldesel im Schlepptau, Steffen Neutze zeigt ihn als naiven Tor.

Es fehlt nur das blinkende Herzchen
Musetta aber wird am Ende Handelnde sein und allen voran der todkranken Mimi beistehen. Vorher noch verblüfft das dritte Bild der Produktion. Da steht früh am kalten Morgen tatsächlich ein schedderiger Wohnwagen in grenzwertem Gelände – es fehlt nur das blinkende Herzchen. Musetta kommt heraus, wirkt besuchsbereit, aber stattdessen spitzt sich die Mimi-Tragödie zu. Rodolfo verlässt Mimi aus Scham und auch aus einem gehörigen Stück Feigheit, der Sterbenskranken nicht helfen zu können. Was bleibt, ist der Weg zum ersten eingefrorenen Bild, das Tod, Schmerz, Verzeihen und Herzenswäre vereint.

Großartige Einzelleistungen leuchten aus dem runden Ganzen heraus. Ulrich Kratz etwa mit all seiner Power als WG-Oldie Schaunard, der immer was zu essen und trinken auftreibt. Milcho Borovinov mit großem Stimmvolumen als zurückhaltender Philosophenkopf Colline. Viele Abrunder gehören dazu: Wlodzimierz Wrobel ist immer eine Bank, diesmal sorgt er als Vermieter für Komik und Alexander Tremmel als Spielzeugverkäufer Parpignol für Weihnachtsfarbe.

So schlank die Geschichte geführt wird, so besitzt sie doch Fülle. Daran haben Haus-, Extra- und Kinderchor großen Anteil – Phillip Barczewski arbeitete mit den großen, Anna Schwemmer mit den kleinen Sängern. Noch so ein Detail, ein freches: Darin schiebt Juha-Pekka Mitjonen als Grenzwache einen Mann aus dem Bild, der seinen Harndrang nicht unter Kontrolle halten kann. Das ist wie nebenbei inszeniert und darum passend, was für den ganzen gegenwärtigen Abend gilt. Diese „Bohème“ ist auch etwas für Menschen, die mit Oper nichts am Hut haben.

Von Hans-Martin Koch