Mord aus Eifersucht

Von Hans-Martin Koch

Lüneburg. Auf keine Frau in der Geschichte des Musiktheaters prasseln so viele Projektionen nieder wie auf Carmen. Alle spielen sich ab zwischen Feministin und Femme fatale. Zigarettendreherin, Tänzerin, Schmugglerin, das ist noch ziemlich klar. Was aber treibt diese stolze, selbstbewusste Frau dazu, dass jeder Mann, kaum dass sie ihn erobert hat, sie langweilt?

Die Frage treibt Hajo Fouquet um, der den Opernwelthit von Georges Bizet im Theater Lüneburg entfolklorisiert hat und das Drama eines Mordes aus Leidenschaft seziert. Mit brausender Musik, einigen überraschenden Ideen, einem riesigen Team und einem Enge und Auswege zeigenden Bühnenbild. Das Publikum stimmt diesem so opulenten wie klug ausbalancierten Abend mit viel Begeisterung zu.

Carmen also. Sie trägt ein gepunktetes Kleid, ampelrote Strümpfe. Wichtiger: Sie trägt einen Blick, in dem Herausforderung steckt, und er streift immer über den Horizont des Moments hinaus. Carmen, wie Regina Pätzer sie zeigt, ist eine gehetzte Frau, sie mag nicht rasten. Sie will mehr, sie will alles vom Leben. Doch in ihrer Stimme schwingt noch etwas anderes mit, Regina Pätzer transportiert die sensible Seite dieser Frau mit, und auf die auftrumpfenden Momente kehren schnell die lyrischen zurück, kommende Tragik vorwegnehmend. Ein starkes Rollendebüt, das Regina Pätzer hinlegt.

Sie dominiert ihn nach Belieben
Karl Schneider hat den Don José, den Mörder aus Eifersucht und Frust, schon gesungen. Schneider gibt nun nicht mehr den Heißsporn, sondern einen eigentlich verdruckst, verklemmt in der Ecke stehenden Soldaten, in sich gekehrt. Sein Weg sollte irgendwann wieder zu einem beschaulichen Leben aufs Land führen, aber nun sprengt diese Frau verpanzerte Türen zu nie gelebter, nie geahnter Leidenschaft. Carmen dominiert José nach Belieben, verwirrt seinen kleinen Verstand. Bald trägt sie seine Uniformjacke, und Schneider, gesanglich sehr gut zu Haus in der Partie, lässt den José zu einem abgeschobenen Deppen zerfallen – bis zum Ausweg namens Mord. Männer, die aus gekränkter Ehre morden, beschäftigen Gerichte auch heute rauf und runter.

Die dritte Frau ist auch so eine (Männer-)Projektion. Micaëla symbolisiert die Unschuld vom Lande, die Liebe in ihrer reinsten Form, wie es sie nur in Kunst und Klang gibt. Aber bei Signe Ravn Heiberg ist diese Frau, die zweimal nach ihrem José sucht, mehr als das Naivchen, sieht man vom doch eher albernen Kichern nach dem Kuss ab. Sie muss Mut haben, in die Höhle der Löwen und der Löwin zu gehen. Heiberg singt in ihrer eigenen Liga, in der Größe der Stimme kommen Schmerz, Charakter und Sehnsucht zum Ausdruck.

Bühnenhohe, verschiebbare Elemente
Hajo Fouquet inszeniert aus der Musik heraus. Er formt durchdachte Charaktere, legt ihre bewussten und unbewussten Motive frei, zeichnet die innere, zwangsläufige Logik des Geschehens plausibel nach. Fouquet ist kein Bilderstürmer, seine Inszenierungen bauen Brücken vom Ursprung ins Heute, sie streichen das Überkommene, unterstreichen das Gültige. So muss das Carmen-Bild heute ein komplett anderes sein als zu Bizets Zeit, wo im Weib, so es nicht dem Manne untertan war, in erster Linie Unheil steckte.

Eng zusammen arbeitet Fouquet auch diesmal mit Stefan Rieckhoff (Bühne, Kostüme). Das eindrucksvolle Bild beherrschen fast bühnenhohe, verschiebbare Elemente, rot wie Rost oder wie die verbrannte Erde Südspaniens – oder anders. Mal sind sie abweisende Wand, mal geöffnet für eine Welt, in der die Erde eine Scheibe ist. Am Ende bilden sie – in Glut und Blut leuchtend – die Umgrenzung der Arena. Innen mordet Escamillo Stiere, draußen José Carmen.

Humor steigert die Fallhöhe der Tragik
Die Bühne braucht Umbauten, was kein Problem ist. Gleich nach dem ersten Bild aber, kaum ließ sich die Atmosphäre aufnehmen, folgt eine deutlich zu lange, wenngleich mit Musik gefüllte Unterbrechung. Ist was passiert? Panne? Nein.

Die groß besetzten Symphoniker fegen zu Beginn förmlich die Klischees aus der Musik. Sie sind im Folgenden fein mit den Solisten abgestimmt und mit den prächtigen Chören, die Phillip Barczewski einstudierte, und mit dem so großen wie großartigen Kinderchor aus Anna Schwemmers Klassen. Dorsch und die Symphoniker locken aber auch den Humor aus dem Werk, was die Fallhöhe der Tragödie beträchtlich steigert. Gesungen wird auf Französisch, was gut geht, da alles nachvollziehbar ist und die Ober­text­anlage fast immer punktgenau läuft.

Olaf Schmidt choreographierte das Geschehen
Die vielleicht schönste Ideen der Produktion ist der Mann mit dem Bandoneon, der wie ein Schatten Carmens ihr dunkles Inneres in Klang überträgt. Thomas Dorsch hat Jakob Neubauer wunderbar in den Sound integriert.

Es sind Massen auf der Bühne zu bewegen, Olaf Schmidt choreographierte das Geschehen. Carmen, Josè und Micaëla sind nichts ohne ihr Umfeld. Ulrich Kratz ist – auch nicht zum ersten Mal – locker dabei als Star-Stierkämpfer Escamillo, dem sich Carmen als Trophäe andient. Franka Kraneis, Gabriella Guilfoil, Alexander Tremmel, Steffen Neutze und der unverzichtbare „Carmen“-kundige Wlodzimierz Wrobel runden drei Stunden voller Drama, Leidenschaft und so vertrauter wie mitreißender Musik ab. „Carmen“ läuft!