Ein Fest für den Frühling

Die Braut (Ruth Fiedler) ist noch nicht bereit, dem Manne (Ulrich Kratz) zu trauen. Glücksgöttin Fortuna muss noch ein wenig das Rad des Schicksals drehen. Foto: tamme/theater

10. März 2014

Von H.-M. Koch
Lüneburg. Es ist nicht so sehr lang her, da ließ sich Lüneburgs Musikpublikum fürs Klassische trennen. Wer den großen Kantoreien lauschte, tauchte selten bis nie im Theater auf, auch der Meisterkonzertbesucher war in der Regel nicht gerade Gast von Oper und Musical. Und zwischen Michaelis und Johannis rieb man sich in Dissonanzen auf. Wie hat sich das gedreht! Nie war es so hör- und sichtbar, darum so wertvoll wie heute:
Carl Orffs Welthit “Carmina Burana” bringt knapp 160 Akteure aus Theater, Kantoreien und Musikschul-Kinderchor auf die Bühne. Der Chor, ganz in Schwarz, reiht sich auf Podesten auf. Darunter schlendern die Lüneburger Symphoniker in doppelter Stammbesetzung herein, gut 50 Musiker sinds, und vorn auf der Bühne haut Ruth Fiedler, die Frau ganz in Weiß, ihrem Gatten, das ist in diesem Bühnenfall Ulrich Kratz, den Brautstrauß um die Ohren. Sie ist noch nicht so weit, aber jetzt geht es gewaltig los: Dirigent Thomas Dorsch lässt den Kracherchor “O Fortuna” um die Göttin, die für die Menschen das Glücksrad dreht, mit einer Wucht und Schärfe in den Saal, dass der fast an seine akustische Grenze kommt. Das Elementare dieser Musik wird physisch spürbar, sie entwickelt einen gewaltigen rhythmischen Sog.
Orffs Musik ist gegen den Zeitgeist gebürstet. Sein Rückgriff auf Archaisches, Hymnisches und Kultisches, seine Reihungen und Wiederholungen besitzen einen eigentümlichen Reiz von zeitloser Kraft. Thomas Dorsch kitzelt alles an Ausdruck heraus, er feuert an und dämpft. Mächtige Orchesterschläge, deklamierte und gedonnerte Chorpassagen stehen gegen gehauchte, lyrische Soli oder einen lieblichen Flötenlauf. Dorsch, die Kantoren Joachim Vogelsänger und Henning Voss haben das Stück einstudiert, sie werden sich dirigierend die kommenden Abende teilen. Auch Deborah Coombe und Nezih Seckin haben Anteil am musikalischen Erfolg.
Besungen wird der hereinflatternde Frühling, das passt! Aber es geht auch um das Fressen und Saufen, das Zocken und die Liebe bzw. ganz konkret um das Lieben. Orff besingt und feiert eben das Leben, baut dabei Derbes aus den pergamentalten Vorlagen ein und Kritisches wie den Abt von Cucanien, der seine Soutane wegwirft und sich für den Absturz ins fette Leben entscheidet. Das alles machen in der Austattung von Stefan Rieckhoff die szenischen Elemente klar: Regisseur Hajo Fouquet setzt zum Beispiel mit dem Streit des festlich gekleideten Ehepaares deutliche, dabei nicht überdeutliche Zeichen. Star des Abends aber ist das Ballett. Olaf Schmidt bringt für seine kleine Truppe wie bei “Kaspar Hauser” ­ eindringliche Bilder auf den bewegten Punkt, sie korrespondieren wie selbstverständlich mit den inszenatorischen Ideen.
Drei Solisten fordert Orff: Ulrich Kratz muss ein großes Bariton-Repertoire abrufen und macht das prächtig, Tenor Alexander Panitsch als grotesker “gebratener Schwan” überzeugt mit konzentrierter Energie, und Ruth Fiedler gibt locker mit ansprechendem Timbre die Braut, deren Schicksal Glücksgöttin Fortuna weiterdreht: Sie wird den Kerl eben nehmen.
Der Rest nach knapp 70 Minuten ist Begeisterung.