Ein doppeltes Wunder: „Jeanne d’Arc“ in Lüneburg

Was lange währt, wird endlich gut. So heißt es. Wird dann zwangsläufig fantastisch, was gefühlt eine halbe Ewigkeit währt? Um das abschließende Urteil frank und frei und frech an den Anfang zu stellen: Im Falle von Maricel Wölks Musical „Jeanne d’Arc“, das im Theater Lüneburg eine längst überfällige, konzertante Aufführung erlebt, gilt das. Absolut und (fast) uneingeschränkt.

Diese Frau beweist wirklich einen langen Atem. Damit ist keineswegs nur – aber definitiv auch – Maricels brillante Protagonistin-Performance der Jungfrau von Orleans gemeint. Gemeint ist zunächst einmal der steinige Weg hin zu dieser ersten Etappe. Verschiedene Produzenten bekunden Interesse, bis es 2016 endlich soweit sein soll: Das Rhein-Main-Theater in Niedernhausen ist bereits gekauft, da platzt der Traum einer Wiederbelebung der Spielstätte ebenso kurzfristig wie spektakulär ob der Insolvenz eines Unternehmers und Verlagsstreitigkeiten kommen hinzu. Segelstreichen wäre angesichts all dessen die übliche und verständliche Reaktion. Das Ruder demgegenüber herumzureißen, um hart am Wind zu fahren, zeugt von dickem Fell, sehr viel Optimismus und jeder Menge Mut. Diesen Optimismus geteilt, den Mut honoriert zu haben, ist das große Verdienst des Theaters Lüneburg.

Umso mehr, weil es keineswegs auf Nummer sicher geht und eine eingedampfte, kammermusikalische Fassung zeigt. Ganz im Gegenteil: Es ist die große Bühne. Es spielen die Lüneburger Symphoniker. Es singen Haus- und Extrachor. So erlebt man an diesem Abend ein gleich zweifaches Wunder: Das Wunder der französischen Nationalheldin, die sich im fünfzehnten Jahrhundert an die Spitze des französischen Heeres setzt und ihrem König zur Krone verhilft – in einem Alter wohlgemerkt, als selbst Greta Thunberg freitags noch regelmäßig zur Schule ging. Und das Wunder der Dreifaltigkeit aus Schauspiel, Klassik und Popularmusik.

Für den Schauspielanteil sorgt Erzähler Friedrich von Mansberg. Sein Ton gerät manchmal arg pastoral, sorgt gleichwohl für Metaebene und Doppelbödigkeit. Er kommentiert und konfrontiert, streut ernste Zweifel, schafft bittere Gewissheiten. Immer wieder kommt Johannas ältere Schwester ins Spiel, deren Ermordung sie macht- und tatenlose Zeugin wurde. Ist die Stimme, die sie antreibt, am Ende die Stimme eines kindlich-naiven, schlechten Gewissens? Die Rettung Frankreichs der Versuch einer Wiedergutmachung, der Wunsch nach Absolution? Nach dem Motto: „Wenn du schon deine Familie nicht schützen kannst, dann rette wenigstens dein Volk!“ Es sind komplexe, an sich paradoxe Gedankenspiele wie diese, die zeigen, wie dicht Maricel an den handelnden Personen bleibt – und wie treu damit ihrer eigenen Maßgabe, emotional zu denken. Weil nur so die Geschichte sich zwingend fortschreibt, das Geschehen sich organisch entwickelt – im Verzicht auf große, letztlich gebaute Knalleffekte.

Ohne die geht es natürlich trotzdem nicht, dafür ist schlicht zu viel Talent bei „Jeanne d’Arc“ auf der Bühne. Die Qualität der Kompositionen allein sind Anlass für helle Freude. Obwohl hörbar in der Tradition von Kunze/Levay stehend, gehen Maricel Wölk und Co-Komponist Thomas Lange (bei drei der Songs waren seine flinken Finger mit im Spiel) dankenswert verschwenderisch mit diesem Erbe um. Wo bereits „Rebecca“ stellenweise anmutet, als würden B-Seiten aus „Elisabeth“ verwertet, klingen Wölks und Langes Melodien immer frisch. Und immer wieder spannend.

Maßgeblichen Anteil daran haben Thomas Dorschs raffinierte Arrangements, die gefallen, ohne gefällig zu sein. Seine Partitur könnte – smart und überreich an Ideen, wie sie ist – selbst Bernstein und Sondheim zum angeregt-anerkennenden Mitwippen animieren; dass sie den Stimmen trotzdem ein stimmiges Soundbett bereitet, verdankt sich Dorschs leidenschaftlichem, fröhlich-forderndem Dirigat. Unglaublich, dass dem Orchester kaum mehr als eine Handvoll Proben vergönnt waren, zwei davon im Beisein der Sängerinnen und Sänger. Und die rufen ab: Publikumsliebling Ulrich Kratz zeigt als Bedford fast beängstigende physische Präsenz, John Vooijs brennt als Jean Metz in „Tanz mit dem Feuer“ für seine Jeanne. Und Johanna selbst? Im Gegensatz zu ihrer Titelfigur zeigt Maricel keine Schwäche. Zugegeben, es ist ihre Vision; sie lebt und leidet mit den Texten und Tönen seit Jahren. Diese Tatsache indes dürfte den Druck, unter dem sie steht, kaum verringern. Umso erstaunlicher, wie souverän sie Druck in Dringlichkeit verwandelt. Ein unprätentiöser Profi, der seine Zuschauerinnen und Zuschauer mit durch Höhen und Tiefen von Range und Rolle nimmt. Tadellos.

Zwei kleine Wermutstropfen bleiben. Durch den Wegfall der Mise en Scène wirkt so manches Lied zwangsläufig allzu ungebunden. Seine Aussage gewinnt in gleichem Maße an Allgemeingültigkeit, wie sie an signifikanter Bedeutung verliert – weil sie für sich steht, statt Teil der inneren beziehungsweise äußeren Handlung zu sein. Das ist keine Kritik an der Vorlage, sondern ein Plädoyer für ihre weiterhin ausstehende Uraufführung. Angesichts von Jukebox-Musicals und Blockbuster-Adaptionen in Endlosschleife, die kurzfristig und -sichtig auf den schnellen Gewinn abzielen, wäre ein originärer Stoff wie „Jeanne d’Arc“ das unentbehrliche Gegengewicht. Es ist also höchste Zeit, dass er stattfindet, beim nächsten Mal freilich auch verstärkt in PR und Presse. Sonst nämlich bleibt manch ein Platz im Saal leer. Der Schlussapplaus füllt die Lücken locker; die begeisterten Gäste spenden stehende Ovationen für „Jeanne d’Arc“. Und erhalten im Gegenzug die Gewissheit, einem singulären Kunsterlebnis beigewohnt zu haben. Auf eine gute Weiterreise und einen sicheren Hafen!

Text: Jan Hendrik Buchholz