Vom Fliehen und Vertrieben werden

tanznetz.de „StadtRaumKlang“ am Theater Lüneburg

VOM FLIEHEN UND VERTRIEBENWERDEN

Annette Bopp
„StadtRaumKlang“ am Theater Lüneburg

Es war gewagt – und ein Gewinn auf ganzer Linie: Für das Projekt erarbeitete Ballettdirektor Olaf Schmidt eine bemerkenswerte Version von Strawinskys „Sacre du Printemps“ mit seinem Ensemble und acht freiwillig auftanzenden LüneburgerInnen.

Es war gewagt – und ein Gewinn auf ganzer Linie: Im Rahmen des Projekts „StadtRaumKlang“ zeigte Olaf Schmidt mit dem Lüneburger Ballettensemble und acht freiwillig auftanzenden LüneburgerInnen eine ebenso eigenwillige wie zeitgemäße Interpretation von Strawinskys „Sacre du Printemps“. Ein weiteres Beispiel für die exzellente Arbeit, mit der er seit fünf Jahren die kulturelle Szene der kleinen Hansestadt in der Nordheide bereichert.

Aber der Reihe nach. Den Hauptanteil des Abends unter dem Motto „EastWest DanceMelody“ bestritten nämlich die Lüneburger Symphoniker, die zu diesem zweiten Konzert in der Reihe „StadtRaumKlang“ eigens syrische MusikerInnen mit hinzugebeten hatten. Gemeinsam spielten sie unter Thomas Dorsch, dem kreativen Tausendsassa unter den Generalmusikdirektoren, Ravels „Bolero“ sowie zwei Uraufführungen zeitgenössischer KomponistInnen aus dem arabischen Raum: „Gates of Aleppo“ von Jehad Jazbeh und „Souvenir du Soleil“ von Suad Bushnaq. Jazbeh, der in seiner Heimat Syrien einer der führenden Violinisten war, flüchtete 2013 vor dem Bürgerkrieg in die Türkei und später nach Berlin. Heute lebt die Familie in Bremen. 2015 gründete sein Bruder Raed Jazbeh das „Syrian Expat Philharmonic Orchestra“ aus syrischen Musikern, die in Europa leben. Jehad Jazbeh ist Konzertmeister des Ensembles und ebenso Leiter des „Damascus String Quartet“. Sein jüngstes Werk „Gates to Aleppo“ steht für die heute noch fünf existierenden Stadttore Aleppos (früher waren es 15) und wurde speziell für den Abend von „StadtRaumKlang“ komponiert.

Das gilt auch für „Souvenir du Soleil“ der 36-jährigen Film- und Konzertkomponistin Souad Bushnaq. In Jordanien als Tochter einer syrischen Mutter und eines palästinensisch-bosnischen Vaters geboren, begann sie bereits mit neun Jahren zu komponieren und erhielt ihre professionelle Ausbildung in Damaskus und an der McGill University in Kanada. Ihre Musik versteht sie, die heute in Toronto lebt und wirkt, als friedliche Brücke zwischen den Kulturen, besonders zwischen dem vorderen Orient und dem Westen. Leider scheiterte ihre Anwesenheit bei der Uraufführung von „Souvenir du Soleil“ an den komplizierten Ein- und Ausreisebestimmungen Kanadas – Souad Bushnaq wurde die Ausreise am Flughafen verweigert. Schade, sie hätte an der einfühlsamen Interpretation der Lüneburger Symphoniker ihre Freude gehabt.

Eindeutiger Höhepunkt des Abends jedoch war dann nach der Pause die Aufführung des „Sacre“. Er habe „einen Heidenrespekt vor diesem Meisterwerk der Tanzgeschichte“, sagte Olaf Schmidt in seiner kurzen Einführung und betonte, es handele sich nicht um eine Choreografie im eigentlichen Sinne. Er habe das Stück an sechs Wochenenden mit seiner Kompanie und neun Freiwilligen aus der Lüneburger Bevölkerung (einer verletzte sich dann im Lauf der Proben leider am Fuß und konnte nicht mittanzen) einstudiert. Herausgekommen sei ein Tanzstück über das Thema Flucht und Vertreibung zur Musik des „Sacre“. Und was für ein Tanzstück! Olaf Schmidt ist ein Meister darin, aus wenig viel zu zu machen: Raffiniert auf die Gegebenheiten im Libeskind-Auditorium der Leuphana-Universität abgestimmt seine Lichtregie. In Ermangelung von seitlichen Scheinwerfern, ganz zu schweigen von Lichtquellen von oben, markierte Schmidt das Tanzteppich-Quarree mit kleinen, ferngesteuerten LED-Bodenscheinwerfern. So zeichneten sich die Schattenrisse der Tanzenden auf drei Wänden zugleich ab (hinten, rechts und links) – genial!

Es ist mucksmäuschenstill im Saal, als die Musik einsetzt und die 15 TänzerInnen das Areal betreten. Und dann beginnt zu den wuchtigen Klängen des „Sacre“ ein Fliehen und Verfolgen, ein Hin und Her, ein Rennen und Fallen, ein Stürzen und Getragenwerden, ein Vereinzeln und Zusammenkommen, ein Zurückweichen und Voranschreiten, ein Innehalten und Weitermachen. Grenzüberschreitend bis in das Publikum hinein dringen die Fliehenden und Vertriebenen, um dann wieder zurückzukehren zu ihrer Gemeinschaft. Kaum lassen sich Laien und Profis unterscheiden, so eng sind sie miteinander verwoben. Nur gegen Ende, wenn alle Mitwirkenden mit verschränkten Armen im Kreis stehen, lösen sich einzelne und einmal auch ein Paar zu Soli – und die sind dann doch erkennbar professionell. Bis sich alle zu einem kompakten Haufen zusammenballen, um mit dem letzten Akkord eine Einzelne auszustoßen. Ein furioser Schluss! Standing Ovations beim restlos begeisterten Publikum.