Vom Steigen und vom Stürzen

  1. Juni 2018

Lüneburg. Die Idee ist gut und ambitioniert dazu. Unter dem Titel „Musical Hotspot“ will das Theater einmal im Jahr in konzertanter, also nichtinszenierter Weise ein Werk vorstellen, das noch nie vor Publikum erklungen ist. Musical-Uraufführung Nummer eins war gut, und ambitioniert war sie natürlich ebenfalls. Das Stück stammt aus eigenem Haus: Generalmusikdirektor Thomas Dorsch, längst ein erfahrener Komponist, hat mit dem Texter Thomas Lange „Das Bildnis des Oscar Wilde“ auf die Bühne gebracht. Das kam sehr gut an, auch wenn der Saal nur halbvoll war, was an dem Fußballdrama in Russland lag.

Dorsch/Lange haben einen nicht gerade leicht zugänglichen Stoff aus Fakten und Fiktion zugeschnitten. Zu erleben ist eine Geschichte vom hohen Fliegen und tiefen Stürzen. Zusammengebracht werden darin das Leben des Oscar Wilde (1854-1900) und sein einziger Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“. Es entwickeln sich mehrere Geschichten. Mit dem Aufgreifen des von Dorian Gray über Oscar Wilde zum „bezaubernd schönen“ Robert Ross mutierenden Bildnisses läuft eine Art reflektierender Doppelgängergeschichte ab. Parallel erzählt wird die Geschichte des kritischen und erfolgreichen Autors, der Frau und Kinder vernachlässigt, weil seine Liebe zu jungen schönen Männern stärker ist. Homosexualität aber wird im viktorianischen England verfolgt. Wilde wird zu Fall gebracht, in den Knast geworfen, in Armut, Einsamkeit und zum Tod getrieben.

Friedrich von Mansberg moderiert das Geschehen und übernimmt auch den Part des ausfallenden Tenors Karl Schneider. Der erste Teil des Musicals wirkt im Libretto von Thomas Lang wie eine ausführliche, komplexe Exposition und wie der Aufbau der Konflikt-Konstellation. Bühnenwirksamer entwickeln im zweiten Teil die Szenen von Gericht, Gefängnis und Verarmung Spannung. In einer Inszenierung allerdings mag auch Teil eins plastischer und fesselnder daherkommen.

Das gelingt der Musik durchgängig. Sicher, Thomas Dorsch erfindet die Welt nicht neu. Warum auch? Das Musical bewegt sich in Klangspuren, die von Bernstein bis Lloyd Webber führen. Thomas Dorsch gibt allem seinen eigenen Dreh mit einer Fülle von immer neu schillernden Klangfarben. Das musikalische Geschehen besitzt durchgehend enorme, oft von Blech und Schlagwerk zugespitzte Dramatik, es ist so anspruchsvoll wie packend gebaut. Die in großer Besetzung bis Harfe und Klavier spielenden Symphoniker liefern eine starke Arbeit ab, was auch für den singenden und bei Bedarf giftig zischelnden Chor gilt. Einige aus dem Chor wie Wlodzimierz Wrobel sind dazu solistisch gefragt.

Oscar Wilde im Kerker
Die Songs bewegen sich im Bereich vertrauter Musicalmelodik, ohne banal abzugleiten. Einen Hit, einen „Ohwurm“ nimmt das Publikum nicht mit, aber einiges prägt sich ein. Dazu zählt die Idee, das Lied „Was ist das für ein Leben…“ Oscar Wilde im Kerker singen zu lassen und in der nächsten Szene an ganz anderem Ort seine Frau Constance, die vor einem Scherbenhaufen erhofften Glücks steht.

Thomas Dorsch hat viel Jazz hineingestrickt und mit seinem erprobten Librettisten Thomas Lang die nötige Dosis Witz zugefügt, die etwa aus einem chansonesken Beitrag kommt. Claudine Tadlock bringt das bravourös rüber und kassiert als erste an diesem Abend Szenenbeifall. Texter Thomas Lang kooperiert zudem oft mit Maricel Wölk, dem Gast an diesem Abend. Maricel, wie sich kurz nennt, hat im Musical Karriere gemacht, sang etwa die Constanze in der deutschen Premiere von „Mozart!“ in Hamburgs Neuer Flora. Nun singt sie eine andere Constance, sie gibt den berührenden Parts gekonnt viel Gefühl.

Eine Idealbesetzung für den Dichter, für Kraft, Herz, Zorn und Schmerz ist Ulrich Kratz. Alexander Tremmel packt als dreifaches Spiegelbild eine Menge Aufgaben, und Friedrich von Mansberg singt seine kurzfristig übernommene Sache gut, moderiert den Abend launig und mit Sinn fürs Spontane.

Standing Ovations am Ende. Der nächste Hotspot-Termin steht: 13. Juni 2019. Nur muss das Werk noch geschrieben oder entdeckt werden.

Von Hans-Martin Koch