Die Hochzeit des Figaro am Theater

Landeszeitung Lüneburg, 19. September 2017
Lüneburg. Da steht er wieder, der Graf Almaviva, und fragt sich, ob er noch Herr im eigenen Schloss ist. Gerade hat er wieder gepoltert, dass Recht ist, was er sagt. Aber keiner hört zu und das Personal macht nicht, was er will. Das war anno 1786 in adeligen Zeiten schon ziemlich frech, sich im Opernhaus so über die Blaublütler lustig zu machen. Unterhaltsam ist das fern aller Brisanz noch heute, was Mozart und Hoftheaterdichter Lorenzo da Ponte damals knapp an der Zensur vorbei auf die Bühne brachten. „Die Hochzeit des Figaro“ eröffnet nun die Saison im Großen Haus des Theaters Lüneburg, wird zum Triumph und zum Beweis, wie kleine Bühnen Großes leisten können.
Die Hochzeit des Figaro eröffnet die Saison
Die Geschichte, die an einem Tag spielt, ist verwirrend. Das Programmheft braucht drei Seiten, um die Handlung aufzudröseln. Ein Versuch in drei Sätzen: Diener Figaro liebt Zofe Susanna, auf die der Graf scharf ist und der alle Frauen verehrende Page Cherubino sowieso, und außerdem will Marcellina den Figaro wegen eines Schuldversprechens heiraten, was nicht geht, weil sie ja – huch!?! – seine Mutter ist.
Die Gräfin ist enttäuscht von ihrem dauerlüsternen Mann, aber selbst aus Tiefenfrust durchaus Affärchen zugänglich, und wenn‘s mit dem Pagen ist. Am Ende von lauter Verstecken, Verkleiden, Verlieben und Sünderei muss der Graf die Gräfin vor versammelter Mannschaft um Verzeihung bitten, und so wird alles gut für diesen Tag. Aber – Satz vier – morgen ist ein anderer Tag,
Männer, die ihren Verstand tieferlegen
Es ist ein ziemlicher Knoten, den Regisseur Michael Sturm in gut drei Stunden durchschlagen muss. Fast alle Stränge entwirrt er mühelos, nur in der Szene, in der Marcellina Figaro beansprucht, ist Vorwissen hilfreich. Wichtiger: Sturm erzählt mit verschmitzt eingebauten Details und im Wissen, dass alles Private politisch ist, eine Geschichte voller Komik und voller
Menschen-/Männerkenntnis. Die Kerle von Graf bis Page verwechseln – nur in dieser Oper? – allzu gern Liebe mit Sex und legen ihren Verstand einige Etagen tiefer. Sturm zeigt, wie sich die Macht der Anziehung und auch die Macht im Schloss alle Nase lang verändert. In der permanenten Unsicherheit bleibt der Ernst der Lage präsent: Wie verlässlich ist der Partner, wie trügerisch sind Sätze, wie lässt sich Machtwillkür aushebeln? Darin ist Diener Figaro der Meister. Doch im Intrigenbau sind es die Frauen, standesübergreifend.
Dass diese Inszenierung so spritzig und gegenwärtig rüberkommt, hat mit der Übersetzung Walter Felsensteins zu tun. Sie schmeißt alles Verkleisternde raus und holt die Menschen ganz nah heran. Sturm stärkt das in jeder Szene, und manchmal sprengt er Ort und Bildsprache. Figaro wird in der Inszenierung die Bühne verlassen und – ach nein, das wird jetzt nicht verraten.So frisch das Spiel ist, so prächtig sind Kulissen und Kostüme, nur die Bauern im Chor tragen kartoffelsackbraun. Stefan Rieckhoffs Bühnenbild ist mehr als Kulisse, er lässt die Hofgesellschaft in paradiesischer Umgebung agieren.
Was für ein Dreiklang!
Von Mozarts Zeitgenossen Wenzel Peter stammt das Monumentalgemälde „Adam und Eva im irdischen Paradies“, das Rieckhoff zitiert und schließlich in Einzelteile zerlegt. Darin erstarren die Akteure zum lebenden Bild. Dass auf dem Gemälde Eva dem Adam den Apfel reicht, das hat natürlich auch mit den Sündenfällen des Tages zu tun. Für dieses Sittengemälde schrieb Mozart eine Musik, die sich hautnah an den Figuren und ihren Charakteren entlang bewegt. Dirigent Thomas Dorsch achtet auf die Sänger, baut gewaltige Finale an Akt zwei und vier, und die hervorragend aufgelegten Lüneburger Symphoniker scheinen mit Inszenierung und Bühnenbild regelrecht zu verschmelzen. Was für ein Dreiklang!
Aber alles ist nichts ohne dieses Team. Christian Oldenburg zeigt einen überragenden Figaro, er verbindet Quirligkeit, Tiefenschärfe und singt mitreißend forsch. Franka Kraneis, ebenso spielfreudig, entwickelt eine keineswegs aufs Schönsein reduzierte Susanna: Kraneis ist dazu sängerisch eine Mozart-Idealbesetzung. Dass der ver- und genarrte Graf Almaviva in die Jahre kommt, zeigt Ulrich Kratz, der die Partie schon 1999 sang und dies nun – wie gereifter Wein – mit Ironie und Klasse wiederholt. Signe Ravn Heibergs Gräfin kommt melancholisch daher, Heiberg singt mit ganz großer Stimme und herzerweichend schön. Und den immer irgendwie auftauchenden Pagen Cherubino lässt Regina Pätzer per Spiel und Stimme durch Himmel und Hölle gehen.Noch die kleineren Partien werden differenziert gestaltet
Starke Besetzung
Bis in die kleineren, differenziert ausformulierten Partien ist die Produktion stark besetzt. Dobrinka Kojnova-Biermann (Marcellina), Sarah Hanikel (Barbarina), Timo Rößner (Basilio, Don Curzio), Volker Tancke, alternierend Steffen Neutze (Bartolo), Wlodek Wrobel (Gärtner Antonio) und – aus dem top eingestellten Chor heraustretend – Elke Tauber und Kirsten Patt: alles Gewinner an diesem lang gefeierten Abend.
An die Standing Ovations schloss sich Lüneburgs begehrtestes Premierenbüffet an, aufgetischt von einem engagierten Team aus dem Freundeskreis des Theaters. Auch dafür gab es wie in den Vorjahren Standing Ovations in Form langer Schlangen.
Von Hans-Martin Koch