Meeresstille und glückliche Fahrt

Lüneburg. Was haben Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre op. 95, Elgars Enigma-Variationen und die zweite Sinfonie von Sibelius gemeinsam? Sie alle sind „variantenreich“, so das Motto des Meisterkonzerts im Theater. Thomas Dorsch als moderierender Dirigent des Symphonie Orchesters aus Göttingen erklärte, Mendelssohn habe drei Fassungen seiner Ouvertüre geschrieben, was zwar einerseits auf seine Selbstzweifel, andererseits aber auf seinen Ideenreichtum verweise. Sibelius sei ebenfalls ein Ideensucher gewesen, habe thematische Keimzellen formuliert und seinen Gedanken sinnbildliche Kraft verliehen. Elgar entwarf komplex gezeichnete musikalische Portraits von Zeitgenossen.

Dass sinnbildliche Kraft den Variationsreichtum die drei zu ganz unterschiedlichen Zeiten und Anlässen entstandenen Kompositionen adelt, zeigte das Orchester mit spürbarem Engagement, viel Temperament und Virtuosität. Die 1839 von Mendelssohn komponierte Schauspielmusik nimmt Bezug auf die Emotionen, die Victor Hugos im 17. Jahrhundert spielende Tragödie „Ruy Blas“ ausmachen. Der Komponist benötigte für seine Partitur nur wenige Stunden vor der Leipziger Uraufführung. Zwei gegensätzliche Themen laden zu turbulenten Modifikationen und Verwirbelungen ein. Filigran, explosiv, mitreißend realisierte das Orchester unter Dorschs Leitung diese zu Unrecht hinter bekannteren Ouvertüren Mendelssohns rangierende Musik.

Elgar habe, so Dorsch, nie den Durchbruch geschafft, nie das enorme Ansehen zu Lebzeiten gehabt, das er heute in England genieße. Verbitterung schleiche sich auch in Passagen der Enigma-Variationen op. 36 von 1899. Sie offenbaren ein spätromantisches Kaleidoskop verschiedener Charaktere von Personen, deren Identitäten damals geheim blieben, heute aber, bis auf eine, bekannt sind. Anhand einiger Hörbeispiele zeigten Dorsch und die Göttinger, wie brillant Elgar Grundharmonien schuf, um Basisgefühle hervorzurufen, wie geheimnisvolle musikalische Finessen für Charakterdarstellungen und Anspielungen auf typische Tätigkeiten klingen. Dorsch animierte das Orchester, dynamisch sehr lebendig, anschaulich und mit Eleganz zu musizieren. Leichtfüßige Themen illustrierten ein lichtes weibliches Wesen, ein Zitat aus Mendelssohns „Meeresstille und glückliche Fahrt“ klang wie ein alter Schiffsdieselmotor, und Dr. George Robertson Sinclairs Bulldogge Dan knurrte, bellte und platschte laut in den Fluss.

Die zwei Jahre nach Elgars Enigma-Variationen entstandene zweite Sinfonie des Finnen Jean Sibelius hat sehr individuelle, romantische, aber auch neoklassizistisch und tonal modern zu nennende Züge. Verschwenderische Stilelemente tummeln sich in den vier Sätzen, Stimmungen und Bildhaftes treten in den vielgestaltig verästelten Themen, Motiven und Rhythmen zutage. Wetter- und Lichtwechsel, surrende Insektenschwärme und Spiegelungen einer Mondnacht in den Seen, wenn man so will, Idylle und dramatische Einschübe wechseln sich ab. Das ausdrucksstarke Spiel ließ es zu, sich derartige Inhalte vorzustellen. Thomas Dorsch und die Göttinger ernteten am Ende stürmische Bravos und lange anhaltenden Applaus.

Von Antje Amoneit, 25. Januar 2017