Liebe fordert einen hohen Preis

Lüneburg. Dies ist die Geschichte einer Geschichte aus der Geschichte. Zwei Frauen stehen im Zentrum: Marie Curie, Doppel-Nobelpreisträgerin, und Blanche Wittman, Hysterie-Patientin. Per Olov Enquist hat über die real existiert habenden Frauen eine Geschichte, einen Roman geschrieben, in dem er die Frauen zusammenbringt in einer Fiktion. Olaf Schmidt schließlich, Lüneburgs Ballettchef, hat aus dem Roman eine Geschichte über Leid und Liebe extrahiert. Thomas Dorsch dirigierte zur Uraufführung seine eigene Musik, und das Publikum im Theater Lüneburg dokumentierte am Ende mit knapp zehn Minuten rhythmischem Klatschen: Das fanden wir richtig gut.

Jede der beiden Frauen hat ihren Ort. Der für den Tanz spannendere ist die Salpêtrière, die führende Psychiatrie Europas zur Zeit, in der Blanche Wittman (1859-1913) zur „Königin der Hysterikerinnen“ aufsteigt. Mit Licht, Vorhängen, einer Art Labortisch wechselt die Szene von Bühnenbildnerin Manuela Müller in die Welt der Marie Curie (1867-1934). Leuchtstäbe deuten das strahlende Forschungsfeld der Physikerin und Chemikerin an. Hier werden schließlich die beiden Frauen zusammenkommen. Hier beginnt auch das Tanzstück mit einer Szene, die sich am Ende des nun folgenden Rückblicks erklärt.

Es gibt keine Sieger ohne Verlierer

Olaf Schmidt konzentriert sich in seinem Konzept auf einen Satz, der zu Beginn auf dem Vorhang aufleuchtet: „Die Liebe besiegt alles“. Nur: Kein Sieger ohne Verlierer. Und hat nicht auch die Frau, die da am Anfang und am Ende im Rollstuhl sitzt, endlos viel verloren auf ihrem Weg?

Das ist Blanche, getanzt von Claudia Rietschel, die wie keine andere aus der großartigen kleinen Balletttruppe Charakterfiguren verkörpern kann. Ihre Blanche beobachtet, oft regungslos, das Geschehen um sie herum. Sie wird etwas mit dem seinerzeit berühmten Arzt Jean-Martin Charcot (Wout Geers) anfangen oder er mit ihr, erst agiert er mit Sigmund Freud (Francesc Fernández Marsal) als Hypnotiseur, dann aber auch als Liebhaber der Blanche. Das geht gar nicht: Arzt und Patientin. Aber es passiert. Charcot wird verlieren das Herz!

Die Frauen, Pfleger und Ärzte in der Psychiatrie regen Olaf Schmidt zu immer neuen Bewegungsideen an. Die Szenen, so beeindruckend und phantasiebeladen sie sind, bekommen allerdings ein Übergewicht in der Proportion des Abends. Aber wie mit Menschen experimentiert wird, wie Phantasie und Wahn Menschen verändern, welche Kreaturen sich die Natur ausdenkt, das wird erschreckend demonstriert und in oft aufregenden Bildern gezeigt die arme Frau (Gabriela Luque), die in eine Ovarienpresse gezwängt wird, weil alle Hysterie angeblich aus der Gebärmutter kommt…

Thomas Dorsch schrieb Musik, die fast immer präzise auf die Szenen passt, mitunter flirrt die Musik zum Flattern einer Hand. Schmidt und Dorsch haben im Laufe der Proben einiges umgestellt, und Olaf Schmidt ist ein Choreograph, der noch kurz vor der Premiere Korrekturen vornimmt, mitunter gravierende. Dorschs Musik, die von den Lüneburger Symphonikern makellos umgesetzt wird, schöpft aus dem Vorrat des 20. Jahrhunderts. Meistens strömt sie voller Energie und mit Lust an Bild- und Farbkraft, manchmal strebt sie ein wenig den Grenzen der Tonalität entgegen. Selten nimmt sie sich mal ganz zurück, was zusätzliche Intensität hätte bieten können. Dorsch betont das unaufhörliche Brausen des Lebens und den inneren Aufruhr, der in den Menschen tobt, ob die nun Patienten, Psychiater, Physiker oder eben Liebende sind.

Blanche wird zum Opfer der Wissenschaft

Wie Blanche, so geht Marie Curie in der Liebe einen gefährlichen Weg. Giselle Poncet tanzt diese Frau, die sich begeistert für die neu entdeckte Strahlung, die zugleich zwischen zwei Männern stehen wird, dem Ehemann (Wallace Jones) und ihrem Assistenten (Phong Le Thanh). Poncet zeigt immer eine feinnervige Frau, die bei aller Kontrolliertheit auf dem Weg der Liebe taumeln wird. Sie wird ihren Mann und ihren Liebhaber verlieren, dessen resolute Frau (Rhea Gubler) kassiert ihn ein.

Blanche wird, entlassen aus der Klinik, bei Marie als Assistentin auftauchen. Warum und auf welchem Weg, das ist nicht so klar, aber sie ist dann mal da und wieder wird sie Opfer der Wissenschaft. An ihrem Körper tobt sich die Radioaktivität aus, parallel nähern sich die von allen Männern verlassene Marie und Blanche einander zärtlich an und ins Gesicht der Todkranken kehrt das Lächeln zurück. Die Liebe hat alles besiegt: Ehen, Karrieren, Körper…

Nicht alles erschließt sich so ohne weiteres in den zwei Stunden, und es gibt einige Geschichten mehr, die Olaf Schmidt und seine Dramaturgin Christina Schmidt einbauen. Selbst Einstein (Anibal dos Santos) taucht auf und bringt einen humoristischen Part in die Geschichte. Traum-Phantastik tanzt Júlia Cortés als exzentrische Patientin ins Geschehen. Dazu kommn die Kostüme von Claudia Möbius und Statisten, die diesen Abend bereichern, der sich wie ein gutes Gedicht bei wiederholtem „Lesen“ noch runder anfühlen dürfte.
Auch oder weil einige Geheimnisse bleiben, besitzt das Stück die Kraft, die Olaf Schmidts Arbeit so wertvoll für das Theater macht.

Von Hans-Martin Koch